In der Schulmedizin existiert die psychosomatische Medizin als eigenes Fachgebiet bereits seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Warum ist eine Psychosomatische Osteopathie nicht schon früher entwickelt worden?
Zunächst: die psychosomatische Osteopathie (PSO) hat wenig mit der sogenannten „psychosomatische Medizin“ gemein – angefangen von ihrem Indikationsbereich, dem Verständnis zugrundeliegender Wirkmechanismen, Risikofaktoren, bis zu den osteopathischen diagnostischen und therapeutischen Interventionen. Die PSO wurde nicht früher entwickelt, weil deren zugrundliegende Forschungsergebnisse frühen Osteopathen nicht zur Verfügung standen.
Modelle, Ansätze, Diagnostik und Techniken der PSO gründen, zusätzlich zu erweiterten osteopathischen Prinzipien, insbesondere auf Forschungsergebnissen zu ätiologischen Faktoren, Risikofaktoren von Gesundheit und Allostase sowie auf Erkenntnissen über Wirkmechanismen und Wechselwirkungen zu allen Körpersystemen und Organen – wobei die meisten erst in den letzten 20 bis 30 Jahren bekannt wurden.
Müsste die Osteopathie nicht grundsätzlich die Psychosomatik mit berücksichtigen?
Wie bereits gesagt, PSO ist nicht psychosomatische Medizin und die Indikationen sind nicht begrenzt auf sogenannte psychosomatische Erkrankungsbilder. Es geht hier nicht nur um ein bisschen „Psyche“ in der Osteopathie.
Vielmehr berücksichtigt die PSO die dynamischen Wechselwirkungen zwischen Soma, Physiologie, Erleben der Patienten und ihrer Kontexteinflüsse. Im Klinischen sprechen wir deshalb von „Soma-Physiologie-Erlebnis-Kontext-Dynamiken bzw. -Muster“.
Die PSO basiert auf erweiterten Prinzipien der Osteopathie, zum Beispiel dem Prinzip der Energie. Allen chronischen Kranken ist gemein, dass Energiehaushalt und ATP-Gewinnung beeinträchtigt ist, was im Behandlungsverlauf berücksichtigt werden sollte.
Auch die fünf osteopathischen Modelle, die von meinen Lehrern Philip Greenman und Fred Mitchel jr 1987 entwickelt und von Hruby 1991 und von mir in den letzten Jahren weiterentwickelt wurde, ist Basis der PSO. Dabei sind wesentliche praxisrelevante Fragen:
Welche Faktoren befeuern im jeweiligen Patienten den Allostaseprozess aktiv oder verhindern die Inhibition pathophysiologischer Prozesse?
Welche Körpersysteme sind in welchem Ausmaß in Allostase?
Welche Änderungen sind noch funktionell, epigenetisch, anatomisch oder bereits pathologisch?
Und als therapeutische Konklusion: Wo befinden sich die Zugänge im jeweiligen Patienten, die Heilungsprozesse zulassen.
Zudem spielen alle Afferenzen – Exterozeption, Propriozeption, Interozeption – eine viel größere Rolle, als diese sonst in der Osteopathie einnehmen.
Zur Neuordnung der Behandlungssequenz habe ich erstmals 2006 im Buch „Morphodynamik in der Osteopathie“ Ansätze publiziert, z.B. das evolutionär und ontogenetisch frühe Strukturen fundamentaler und neue evolutionäre Strukturen bedeutungsvoller sind. Das hat hohe klinische Relevanz: Bei Vorhandensein mehrerer Dysfunktionen sollten zunächst evolutionär ältere Strukturen behandelt werden, da die neueren auf älteren aufbauen. Gleichzeitig können die Aktivierung neuerer evolutionärer Netzwerke ältere relativieren und als Koregulation genutzt werden.
Top-Down und Bottom-up Diagnostik erlaubt die Interaktion von „big-players“ im pathophysiologischen Wirken wie auch Ressourcen im Heilungsprozess zu identifizieren und daraus Handlungsoptionen abzuleiten. So können Mappingprozesse z.B. von Gelenk, Knochen und Organen und ressourcenreiche Koregulation verbessert werden.
Die Proaktivität des Patienten ist zentraler Bestandteil der neuen Ansätze – um ein Vielfaches mehr als in der bisherigen Osteopathie.
Wirksame Diagnostik-und Behandlungsansätzen und Techniken sind so entstanden, wie 15 Step-Multimodale Bifokale Integration in der viele Exterozeptoren mit einbezogen werden, 6-Step- Emotionale Regulation-Reset oder Integrale-OMT Schmerzlösungsansätze.
Diese werden auch im Hinblick auf ihre Wirkungseffizienz in Studien untersucht.
Die PSO ermöglicht es, chronische komplexe Krankheitsbilder zu verstehen und effektiv zu behandeln. All das bisher erworbene osteopathische Repertoire ist weiterhin wesentlich – nur die Bezüge zur Anwendung sind erweitert und verfeinert.
Eine psychosomatische osteopathische Behandlung setzt, wie du schreibst, weitere Fachkenntnisse und Wahrnehmungstools voraus, erfolgt in fünf Phasen, zudem wirkt der/die Therapeutin als Koregulatorin. Ist das vom Erlernen her wie auch in der praktischen Umsetzung alles leistbar?
Neues Verständnis führt zu neuen Handlungsoptionen und Behandlungszugängen. Das kann selbstverständlich vermittelt und erlernt werden. Ein Beispiel: Insbesondere, wenn pathophysiologische Muster über viele Jahre bestehen, reicht es nicht, ursprüngliche Ursachen oder Auslöser abzustellen. Stattdessen sind Wirkungsmechanismen zu identifizieren, differenzieren und aktiv zu inhibieren. Zu Beginn der Entstehung der Osteopathie waren diese Wirkmechanismen kaum bekannt.
Ja, es können fünf Phasen unterschieden, die auch ineinanderwirken: 1. therapeutische Beziehung 2. Diagnostik mit besonderer Bedeutung von Proprio- Intero- und Exterozeption, Ressourcen, Koregulation und Feedbackschleifen im Behandlungssetting 3. Stabilisationsphase 4. Integration-Konfrontation inkl. neuer Techniken, Koregulation und ressourcenreicher Flow-Zustand 5. Umsetzung im Alltag, da nicht zwangsläufig, nur weil etwas in der Praxis funktioniert hat oder gelöst wurde oder Referenzerfahrungen gemacht wurden, diese auch im Alltag funktionieren.
Sollte deiner Meinung nach eine künftige osteopathische Behandlung immer eine psychosomatische osteopathische Behandlung sein?
Die PSO könnte die Osteopathie der Zukunft sein.
Die beschränkte Sicht des Begriffes „somatische Dysfunktion“ ist zu relativieren, der dem bisherigen osteopathischen Handeln und Reflektieren zugrunde liegt, und die häufig gewählte Analogie „Feinmechaniker und Maschine“ seitens AT Stills und der Handlungsbeschreibung „find it, fix it, leave it alone“.
Die Dichotomie von Gesundheit und Krankheit sehe ich ebenso als überholt an, zumindest sind diese zu relativieren. Die Berücksichtigung von „Wirkmechanismen“ für Gesundheit wie auch für allostatische Prozesse spielt eine große Bedeutung in der osteopathischen Annäherung.