Zusammenfassung
Dieser Artikel gibt eine Übersicht über das spezifische Denken und Handeln in der psychosomatischen Osteopathie (PSO) im Allgemeinen und des Buches „Psychosomatische Osteopathie“ von Torsten Liem im Besonderen. Grundannahmen, erweiterte Prinzipien, Dysfunktionsmodelle, Diagnostik- und Behandlungsansätze werden erklärt und Unterschiede zu herkömmlichen Osteopathieansätzen erläutert. Ätiologische Faktoren, Risikofaktoren und Wirkmechanismen von Beschwerden, Heilreaktionen und Soma-Physiologie-Erlebnis-Kontext-Dysfunktionsmuster (SPEKD) werden dargestellt, um ein Verständnis der spezifischen Behandlungsansätze im Rahmen der PSO zu entwickeln. So ist die Berücksichtigung multipler voneinander abhängiger und dynamisch miteinander verwobener Einflüsse, holarchische Regulationsebenen und Gleichgewichtssysteme in der Diagnostik und Therapie klinisch relevant, ebenso wie die Identifikation und Unterscheidung von genetischen, epigenetischen und metabolen Einflüssen. Behandlungsindikationen und der Behandlungsaufbau im Rahmen der PSO werden vermittelt. Außerdem wird die besondere Bedeutung von Ressourcen, Koregulation und Feedbackschleifen im Behandlungssetting der PSO herausgearbeitet.
Schlüsselwörter
Person-Kontext-Beziehung, Holarchien, holonische dynamische Netzwerke, Enaktivismus, Adaptivität, Proaktivität, Prinzip der Energie, Dysfunktionsdynamik, Koregulation und Feedbackschleifen, somatische Dysfunktion
Abstract
This article provides an overview of the specific thinking and action in psychosomatic osteopathy in general and the book “Psychosomatic Osteopathy” by Torsten Liem in
particular. Basic assumptions, extended principles, dysfunction models, diagnostic and treatment approaches are explained as well as differences to conventional osteopathic approaches. Etiological factors, risk factors and mechanisms of action of complaints, healing responses and soma-physiology-experience-context dysfunction patterns (SPECD) are presented to develop an understanding of specific treatment approaches in the context of PSO. Thus, consideration of multiple interdependent and dynamically interwoven influences, holarchic levels of regulation, and systems of equilibrium in diagnosis and treatment is clinically relevant, as is identification and differentiation of genetic, epigenetic, and metabolic influences. Treatment indications and the treatment set-up in the context of PSO will be taught. In addition, the special importance of resources, coregulation and feedback loops in the treatment setting of PSO will be elaborated.
Keywords
person-context relationship, holarchies, holonic dynamic networks, enactivism, adaptivity, proactivity, principle of energy, dysfunction dynamics, coregulation and feedback loops, somatic dysfunction
Ätiologische Faktoren, Risikofaktoren und Wirkmechanismen
Kommen Patient*innen zu einer osteopathischen Konsultation, stellen ihre Beschwerden, Befindensstörungen und somatischen Dysfunktionen nur die Spitze eines Eisbergs dar. Darunter – nicht selten relativ unbemerkt – wirkt eine Vielzahl von länger und kürzer andauernden, mehr oder weniger wechselwirkenden, sich gegenseitig verstärkenden oder vermindernden Risikofaktoren, Wirkmechanismen und allostatischen Einflüssen (Abb. 1).

Dysfunktionsdynamik
Die besondere Organisation der Körperlichkeit und der Persönlichkeit lässt uns die Welt auf eine bestimmte Weise wahrnehmen und gibt uns die Möglichkeit, in der Welt zu leben und für unser Wohlergehen zu sorgen. Dieses dynamische Wechselspiel von Person und Kontext hat sich evolutionär und genetisch entwickelt, ebenso wie durch transgenerationale, epigenetische und anthropogene Einflussfaktoren. Unser klinisches hypothetisches Arbeitsmodell bezieht sich darauf, dass sowohl positive bzw. lebensfördernde als auch negative bzw. schädliche Kontext- und Umwelteinflüsse während des gesamten Lebens auftreten können (Abb. 2).

Schädliche Einflüsse können zu allostatischen Reaktionen, dysfunktionalen psychophysiologischen und strukturellen Anpassungen sowie starren, überholten Konditionierungen führen und belasten Physiologien, Reaktions- und Erlebensmuster der Person, mindern die Fähigkeit, auf gegenwärtige Herausforderungen im Leben adäquat und flexibel reagieren zu können, und erhöhen das Risiko für Beschwerde- und Krankheitsbilder. Nicht nur die Stärke und Dauer der schädlichen Kontextfaktoren spielen eine Rolle, sondern auch der Zeitpunkt ihres Auftretens. Frühe Perioden der ontogenetischen Entwicklung sind besonders anfällig. Je früher in der Lebensperiode (inkl. der vorgeburtlichen Zeit) Schutz- und Überlebensreaktionen initiiert werden müssen, desto tiefere Unflexibilitäten und dysfunktionale Konditionierungen können daraus resultieren. Auch Polymorphismen spielen für die Anfälligkeit von schädlichen Kontextfaktoren eine Rolle.
Je nach Lebensperiode sowie Intensität und Dauer der schädlichen Einflüsse sind die aus den Schutz- und Überlebensreaktionen resultierenden Unflexibilitäten unterschiedlich. Zur Veranschaulichung soll die Analogie der Hard- und Software eines Computers dienen: Je
früher schädliche Einflüsse auftreten, desto eher können wesentlichere Strukturen geschädigt werden.
· Ab Zeugung kann die Hardware betroffen sein, d. h. die Genetik.
· Die fetale Programmierung wird durch die Funktionsweise des BIOS (dieser wirkt als Vermittler zwischen Betriebssystemen und Hardware) veranschaulicht. Hier wirken bei chronischem Stress Prozesse der Cortisolämie und Cortisolresistenz auf das ungeborene Kind ein mit zahlreichen Krankheitsrisiken im späteren Leben [2], [4].
· Peri- und postnatale Prozesse könnten durch Einfluss auf den Treiber eines Computers, der Hardwaregeräte steuert, versinnbildlicht werden. Geburtsprozesse wirken sich z.B. auf die Konditionierung in der Raphe nuclei in Bezug auf die Serotoninproduktion aus [7].
· Bis zum 4. Lebensjahr können sich schädliche Einflüsse auf das Betriebssystem auswirken, welches das Zusammenspiel der Hardware- und Softwarekomponenten eines Computers verwaltet. Frühkindlicher Stress zeigt erhöhte Krankheitsrisiken im Erwachsenenalter, indem interagierende Dysregulationen in multiplen physiologischen Systemen die Fähigkeit beeinträchtigen, flexibel auf Stresskontexte zu reagieren [12]. Es ergeben sich z.B. anhaltende und tiefgreifende Auswirkungen auf präfrontale, hypothalamische, Amygdala- und dopaminerge Schaltkreise [9].
· Störfaktoren im Vorschulalter wirken sich auf die Programme eines Computers aus. Gesundheitsprobleme in dieser Zeit werden z.B. durch psychosoziale Mechanismen aufrechterhalten [3].
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Einflüsse in der kindlichen Zeit mit der Entstehung von bestimmten Phänotypen assoziiert sind [6], die wiederum für bestimmte allostatische Reaktionsmuster und Krankheitsbilder prädisponieren.
Folge dieser Unflexibilitäten sind multiple Vorhersagefehler inhärenter Feedbacksysteme in Bezug auf innere und äußere Kontexte:
· nach innen z.B. Reaktionsweisen auf Alkohol, Sport, Fernsehen, fähigkeitsbezogene Erwartungen [5], [8], [11], [13],
· nach außen im Hinblick auf Mentalisierungsprozesse, z.B. wie andere Menschen auf die Person reagieren [10].
Indem neuen Kontexten mit unangemessenen konditionierten Reaktionsmustern und Verhaltensweisen begegnet wird, werden Erfahrungen begünstigt, die sich nicht nährend, negativ und schädlich auswirken – im Sinne von selbsterfüllenden Prophezeiungen – und zu weiteren unangemessenen dysfunktionalen Schutz- und Überlebensstrategien und Unflexibilitäten führen können. Dabei kann auch jede länger andauernde, ungelöste Dynamik
und oder ein Problem im Leben allostatisch wirken. Diese können sich auf posturaler, muskuloskelettaler, metaboler, immunologischer (in Bezug auf Pathogene und Toxine), neuroendokriner, emotionaler, mentaler, sozialer, intersubjektiver (z.B. Partnerschaft) oder biosozialer (Arbeit, Finanzen, Umweltkontexte) Ebene abspielen. Die Folgen können vielfältig sein:
· chronische Aktivierung und Desynchronisation von Stressachsen,
· Insulinresistenz,
· erhöhte Durchlässigkeit von Barrieren,
· Endotoxämie,
· niedriggradige Entzündung,
· Entstehung multipler Krankheitsbilder, inklusive chronischer Schmerzzustände.
Selten ist ausschließlich eine einzelne Ursache zu identifizieren. Aus diesem Grund sind auch anatomisch-energetische Reduktionismen und Absolutismen sowie die Idee der primären Dysfunktion oder die Eingrenzung therapeutischer Interaktionen auf einen einzigen Wirkmechanismus zu relativieren. Es ist vielmehr die Summe aller Risikofaktoren, die die Krankheitswahrscheinlichkeit erhöht. Deshalb sprechen wir eher von raum- und zeitlich begrenzten Soma-Physiologie-Erlebnis-Mustern. Daher ist klinisch gesehen die Berücksichtigung von einem – für jedes Individuum anders gelagerten – individuellen dynamischen „Cocktail“ von holarchischen Top-down- und Bottom-up-Wechselwirkungen, im Wechselspiel mit Teile-Ganze-Aspekten, dem Person/Kontext-Gefüge und im Hinblick auf die Summation von Risikofaktoren und zugänglichen Ressourcen über die Zeit für den Behandlungszugang wesentlich und unabdingbar.
Die Wirkmechanismen, die den jeweiligen Beschwerdebildern zugrunde liegen, werden sich zunächst funktionell festigen, je länger die ungelösten Dynamiken anhalten, allerdings auch strukturell bzw. anatomisch. Auswirkungen und allostatische Belastungen, z.B. eine niedriggradige Entzündung oder Dissoziierungsstörungen, als Folgen von chronischem Stress, Stressbelastungen aus der frühen Kindheit, Schwangerschaft oder langfristigen dysfunktionalen Gewohnheiten lösen sich nicht zwangsläufig von selbst auf, wenn die Gründe für ihr Entstehen nicht mehr aktiv sind. Insbesondere wenn sich Muster über viele Jahre etabliert haben, reicht es nicht, ursprüngliche Ursachen oder Auslöser auszuschließen und abzustellen. Stattdessen sind Wirkungsmechanismen zu identifizieren, zu differenzieren und aktiv zu inhibieren. Zu Beginn der Entstehung der Osteopathie waren diese Wirkmechanismen und ihre Wechselwirkungen sowie ihre Einflüsse auf die Gesundheit kaum und nur rudimentär bekannt. Aus diesem Grunde stehen uns gegenwärtig deutlich mehr Kenntnisse und damit osteopathische Behandlungszugänge zur Verfügung.
Behandlungsaufbau
In einem klar umrissenen Setting werden die der klinischen Symptomatik zugrunde liegenden und assoziierten Soma-Physiologie-Erlebnis-Kontext-Dysfunktionsmuster (SPEKD). behandelt. Der Behandlungsaufbau in der psychosomatischen Osteopathie untergliedert sich grob in 5 Phasen:
Therapeutische Beziehung – Eine klare, stabile, transparente und die Heilung unterstützende therapeutische Beziehung ist die Basis aller weiteren Maßnahmen. Im Vordergrund stehen u. a. die interpersonelle Wechselbeziehung und Resonanz, Empathie, Lösungsstrategien für Behandlungshindernisse und die Einstimmung auf die Behandlung.
Diagnostik – Im Gewebe und in der Körperlichkeit spiegeln sich die Verwobenheiten, Sichtweisen und Konditionierungen des Individuums wider. Auch verdrängte Bewusstseinsinhalte oder Körperenergien finden ihren Ausdruck im Gewebe. Mittels Palpation können gewisse Anteile der den Symptomen, Beschwerdebildern und somatischen Dysfunktionsmustern zugrunde liegenden Wirkmechanismen erfasst werden. Es sind jedoch weitere Fachkenntnisse und Wahrnehmungstools nötig, um die palpatorischen Befunde mit den genannten Einflüssen in Beziehung setzen zu können. Gleichzeitig entziehen sich auch einige dieser Einflüsse der Befundung durch Palpation. Hier sind weitere diagnostische Kompetenzen nötig wie Anamnese, Befundung des Verhaltens, der Mimik und ggf. Fragebögen, Laborbefunde etc.
Die Diagnostik ist auf folgende Aspekte ausgerichtet:
· Erkennen der evolutionären Gesetzmäßigkeiten und ihr Wirken im jetzigen Kontext des Individuums,
· Befundung der beteiligten Wirkmechanismen,
· Identifikation und Differenzierung dysfunktionaler Muster und der Entwicklungsdynamik der Beschwerdebilder einerseits sowie von Ressourcen andererseits.
Die Diagnostik gliedert sich in nicht-palpatorische und palpatorische Untersuchung. Bei der Palpation werden z.B. Schnittstellen und Wechselwirkungen zwischen Körperregionen,
Neurovegetativum, limbischem System, energetischen Phänomenen, psychischem Erleben, der Selbstwahrnehmung des Individuums sowie assoziierten Kontextfaktoren erkundet.
Stabilisierungsphase – Diese umfasst eine Vielzahl von Kompetenzen, z.B. zur verbalen Begleitung palpatorischer Ansätze, und insbesondere osteopathisch manuelles Vorgehen zur Stabilisierung und Koregulation.
Integrations-/Konfrontationsphase – Hier kommen alle bis dahin diskutierten und dargestellten Inhalte und Kompetenzen zum Einsatz. Beispielsweise werden Ressourcen aktiviert, ätiologische Faktoren und Risikofaktoren bestmöglich abgestellt, länger andauernde sowie ungelöste Dynamiken möglichst aufgelöst und beendet, dysfunktionale Wirkungsmechanismen – insbesondere bei länger andauernden Störungen und Dysfunktionen – inhibiert und SPEKD aufgelöst oder aufgearbeitet. Die Aufarbeitung und Integration von SPEKD, Belastungen, chronischem Schmerz-, Stress- oder unverarbeitetem Traumaerleben findet in einem klar definierten Rahmen mittels einer dosierten Aktivierung und gleichzeitigen Koregulation (Aspekt der Stabilitätsphase) durch die Therapeutin bzw. den Therapeuten statt.
Integration im Alltag – Die osteopathische Konsultation gleicht einem therapeutischen Uterus. Die dort erreichten erfolgreichen Veränderungen müssen sich im Alltag bewähren. Die Behandlung wird auch darauf abgestimmt, inwieweit die therapeutischen Impulse in den Alltag hineinwirken. Bei chronischen Beschwerdebildern geschieht die Heilung oder ggf. die Umsetzung im Alltag schrittweise und ist wesentlicher Teil des therapeutischen Wirkens.
Diese 5 Behandlungsphasen sind nicht strikt voneinander abgegrenzt. Sie gehen ineinander über und beeinflussen sich wechselseitig.
Bei der Behandlung werden osteopathische Zugänge entwickelt und angewendet, um ressourcenorientierte Wirkmechanismen zu aktivieren bzw. dysfunktionale Wirkmechanismen zu inhibieren. Außerdem wird den Patient*innen ein Zugang zu Einstellungen, Haltungen und tiefen Bedürfnissen ermöglicht, die vorher nicht bewusst und zugänglich waren, indem sie dabei unterstützt werden, spezifische Reaktionsmuster im Hinblick auf die therapeutische Berührung bewusst zu erleben. Diese Behandlungszugänge bestehen aus einer dosierten und feinabgestimmten Echtzeit-Interaktion von multimodalen ineinander wirkenden Interventionen (palpatorisch, akustisch, visuell, kognitiv, emotional, neurovegetativ, aktiver und passiver Bewegung, interozeptiver Fokus, Atmung etc.). Sie werden angewendet, um die genannten Aspekte zu integrieren, z.B. anatomisch-
physiologische Wechselwirkungen, Wahrnehmungs- oder sensomotorische Zustände und Dynamiken. Dabei werden die Patient*innen koregulierend unterstützt, diese agierenden Kräfte und ihren Bezug zu ihrem Lebenskontext mittels osteopathischer Palpation wahrzunehmen, zu differenzieren und zu integrieren.
Die aktive Partizipation der Patientin bzw. des Patienten ist essenzieller Bestandteil. Dabei werden eigene Koregulationen entwickelt und aktiviert sowie Heilungsprozesse in Gang gesetzt.
Viel hängt von dem Feingefühl, dem „Tunen“ und der Resonanzfähigkeit der Therapeutin bzw. des Therapeuten ab, eine angemessene, stimmige kohärente therapeutische Berührung und Begegnung zu jedem Zeitpunkt der Behandlung geschehen zu lassen. Dieser therapeutische Prozess unterstützt die Entstehung von Emergenzen mit den Folgen:
· Relativierung und Integrierung von dysfunktionalen Soma-Physiologie-Erlebnis-Mustern,
· Organisationsstufen höherer Ordnung, zunehmender Komplexität und relativer Autonomie,
· verbesserte Adaptivität, z.B. bei postural-muskuloskelettalen, immunologischen, metabolen, neurovegetativen, psychologischen Dynamiken und Wirkungsmechanismen, im Hinblick auf gegenwärtige Herausforderungen und Kontextveränderungen,
· Unterstützung und Aktivierung des Potenzials für Heilung und Gesundheit,
· flexiblere und proaktivere Haltungs- und Verhaltenskompetenzen,
· Fehlerminimierung inhärenter Vorhersageprozesse,
· adäquatere und differenziertere Wahrnehmung (z.B. von Schmerzfreiheit),
· Zunahme an Proaktivität in Bezug zum Lebenskontext.
Koregulation und Feedbackschleifen
In der PSO wirken Therapeut*innen als Koregulator*innen, indem sie während der gesamten Behandlung neurovegetative, limbische und kognitive Reaktionen ihrer Patient*innen z.B. anhand von Mimik, Gestik, Verhalten, Körperhaltung, Atmung, Puls, Pupille, Sprache (bezüglich Inhalt, Betonung, Nachdruck, Ton, Rhythmus) wahrnehmen [1] (Abb. 3).

Die Lösung von dysfunktionalen Mustern, die Aufarbeitung und Integration finden in einem dynamischen Balance- und Flow-Zustand statt, der durch mühelose Aufmerksamkeit und eine nicht erzwungene, spontane emergierende Erfahrung der Patientin bzw. des Patienten gekennzeichnet ist. In der Integrationsphase (im Gegensatz zur Stabilisierungsphase) hat der Patient dosierten Kontakt zu Triggern und dysfunktionalen Aspekten der SPEKD, und die Behandlungsansätze finden in einem leichten neurovegetativen Arousal der Patientin bzw. des Patienten statt, möglicherweise außerdem in einer dynamischen Balance zwischen negativen und positiven Emotionen sowie zwischen Impulsinhibition und -aktivierung. Gleichzeitig ist es wesentlich, jede Form von Retraumatisierung zu vermeiden. Deshalb ist auf Basis der therapeutischen Beziehung die proximale Lernzone der Patientin bzw. des Patienten zu identifizieren; damit ist die Integrationsebene gemeint, die für die Patientin bzw. den Patienten erreichbar ist. Außerdem ist während der gesamten Behandlung der Kontakt zum subjektiven Erleben der Patientin bzw. des Patienten aufrechtzuerhalten, sodass Ressourcen der Stabilisierung in der Integrations- bzw. Konfrontationsphase individuell angepasst und dosiert als Koregulation angewendet werden können.
Während einer Behandlung werden zusätzlich zur Berührungsintervention viele weitere, fein abgestimmte Interventionsaspekte genutzt. Außerdem werden die Proaktivität der Patientin bzw. des Patienten aktiv gefördert und im Weiteren das innere Erleben als therapeutisches Tool und inhärenter Teil der Behandlung genutzt. Dies umfasst eine Vielzahl interagierender multimodaler holarchischer Top-down- und Bottom-up-Interventionen und Reaktionen, um einen Flow-Zustand und in dessen Folge innere Bearbeitungsprozesse zu aktivieren, die multiple Wirkungsmechanismen und Feedbackschleifen betreffen. Beispielsweise können in diesem Prozess evozierte, emergente neue Körperhaltungen, Aktivitätsmuster in Körperregionen, Veränderungen von Muskeltonus, Atmung, Puls, Zirkulation und weitere Physiologien entstehen. Mittels Achtsamkeitsunterstützung können Patient*innen in der Folge unterstützt werden, assoziierte neue Körperempfindungen, Interozeptionen, Propriozeptionen und weitere somatische Marker wahrzunehmen. Ferner können sie Wechselwirkungen mit Überzeugungen, Glaubensmustern und Gefühlen identifizieren. Auch können mögliche Veränderungen von diesen entstehen, und es können sich flexiblere Wirkungsmechanismen etablieren, sodass schließlich potenziell erweiterte Koregulationen und Wahrnehmungsebenen im Lebenskontext angeeignet werden können.
Im Rahmen der PSO müssen Therapeut*innen einige Wechselwirkungen beachten (Abb. 4), etwa das Verständnis für Wirkungsmechanismen und Wechselwirkungen der Körpersysteme und Organe sowie die dynamischen Einflussnahmen von Kontextfaktoren und sich summierenden Risikofaktoren in Relation zum SPEKD. Während der gesamten Behandlung sind Wechselwirkungen wahrzunehmen und ggf. Koregulationen anzuwenden. Außerdem soll während der osteopathischen Behandlung die Achtsamkeit der Patientin bzw. des Patienten für die assoziierten multiplen Wechselwirkungen und die Kompetenzen der Koregulation und Selbstregulation gefördert werden.

Indikationen der Ansätze der psychosomatischen Osteopathie
Die Indikationen entsprechen denen, die auch für jede andere osteopathische Behandlung gelten, ergänzt um einige weitere Beschwerdebilder, z.B.:
· SPEKD
· chronische Schmerzzustände,
· sekundäre chronische Verletzungen,
· stressassoziierte und multimorbide Krankheitsbilder,
· chronische Funktionsstörungen mit psychischen Komponenten, z.B. Lernstörungen,
· bei einer osteopathischen Behandlung oder Palpation auftretende zurückliegende, belastende Erlebnisse, Erinnerungen oder signifikante Teile davon,
· Optimierung der Proaktivität und Adaptivität des Individuums in Bezug auf dessen intersubjektiven und biosozialen Lebenskontext – in Anlehnung an Ich-Erfahrungen, Bedürfnissen, Emotionen, Lebenszielen, Selbstwirksamkeiten, Überzeugungen, Dispositionen u.a.,
· Zunahme an Bewusstheit und Proaktivität im Hinblick auf Gewohnheiten, Lebensstilfaktoren und Überzeugungen im Zusammenhang mit Beschwerdebildern,
· jegliche für die Osteopathie zugängliche Beschwerdebilder und Krankheiten.
Je nach osteopathischer Kompetenz beinhaltet die PSO auch folgende Indikationen:
· negative Emotionen, Ängste, Phobien und dysfunktionale Emotionsregulation,
· Suchtverhalten,
· Bearbeitung von biografischen Hintergründen bei somatischen Dysfunktionen,
· gegenwärtige, den Alltag einschränkende Auslöser und Gewohnheitsmuster,
· Allergien,
· irrationale negative Kognitionen,
· Traumatisierungen.
Quelle
In Anlehnung an Liem T. Psychosomatische Osteopathie. München: Urban & Fischer bei Elsevier; 2024.
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